"Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch
ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden
wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere
Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns
eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer
Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und
das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.
Ich
glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung sind,
die wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten Gefühle nicht
mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden, das bei uns eingetreten
ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte für einen
Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang stehen,
wo wir nicht stehen bleiben können. Darum geht die Traurigkeit auch
vorüber: das Neue in uns, das Hinzugekommene, ist in unser Herz
eingetreten, ist in seine innerste Kammer gegangen und ist auch dort
nicht mehr, - ist schon im Blut. Und wir erfahren nicht, was es war. Man
könnte uns leicht glauben machen, es sei nichts geschehen, und doch
haben wir uns verwandelt, wie ein Haus sich verwandelt, in welches ein
Gast eingetreten ist. Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir
werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür,
daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu
verwandeln, lange bevor sie geschieht.
Und darum ist es so wichtig,
einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar
ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem
Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige
Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht. Je stiller,
geduldiger und offener wir als Traurige sind, um so tiefer und um so
unbeirrter geht das Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so
mehr wird es unser Schicksal sein [...]"
~ Rainer Maria Rilke, aus einem Brief an Franz Xaver Kappus
ein wunderbarer Text. Dankeschön dafür!
AntwortenLöschenEs grüßt
Monika